Arbeitsgrundsätze
GRUNDSÄTZE FÜR DIE ARBEIT DER INDIENHILFE
verabschiedet bei der Mitgliederversammlung 1992
Die Indienhilfe – eine Bewegung
Die Indienhilfe (IH) betrachtet sich als Teil der Überlebensbewegung, in der sich u.a. Friedens-, Frauen-, Ökologie- Menschenrechts- und Dritte Welt-Gruppen gegen die immer stärker werdende Bedrohung menschenwürdigen Lebens wenden, sich dabei auf die Beziehungen zwischen Indien und Deutschland konzentrierend.
Wie wir die Probleme sehen
Die IH sieht folgende Hauptursachen für die zunehmende Verelendung breiter Bevölkerungsschichten in Ländern der sogenannten und faktischen Dritten Welt:
- die Verfolgung eines falschen und gefährlichen Fortschritts- und Entwicklungsmodells durch die Masse der Bevölkerungen in den Industrieländern, gleich ob kapitalistisch oder (ehemals) sozialistisch, basierend auf dem irrationalen und anmaßenden Glauben (Hybris) an die Grenzenlosigkeit materiellen Wachstums und materiellen Fortschritts, an den Vorrang einer verabsolutierten Freiheit des Individuums vor der Ein- und Unterordnung des Einzelnen in ein stabiles Beziehungsgeflecht zwischen Menschen und Natur auf dem Planeten Erde;
- die Übernahme dieses Modells (über die Erfüllung der Grundbedürfnisse hinaus), dessen scheinbare Erfolge (Wohlstand, ja Überfluß für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, ungeahnte Möglichkeiten der individuellen Selbstverwirklichung, Reduzierung mühsamer und als demütigend empfundener Handarbeit, Beseitigung vieler physischer Unannehmlichkeiten) verführerisch auf Außenstehende und in höchstem Maße korrumpierend auf Teilhabende wirken, durch die Bevölkerungen in den meisten Ländern der Dritten Welt. Die Übernahme des Modells erfolgt von oben nach unten über die (ökonomischen, politischen, wissenschaftlichen) Eliten und die Mittelschicht;
- die rücksichtslose Ausbeutung der globalen Ressourcen (Rohstoffe, Pflanzen und Tiere, Wasser, Luft, Boden, neuerdings sogar genetisches "Material") durch etwa ein Drittel der Menschheit, das unter Schaffung bzw. Aufrechterhaltung ungleicher Machtverhältnisse bzw. (post-)kolonialer Strukturen in Politik und Wirtschaft ihr falsches Entwicklungsmodell für sich durchsetzt, auf Kosten der übrigen zwei Drittel, die überwiegend die Länder der Dritten Welt bevölkern. Zwischen Eliten der Dritten und der industrialisierten Welt und den jeweiligen Machtapparaten bilden sich Komplizenschaften.
Unsere Ziele und Arbeitsfelder
Die IH strebt an, durch Projekt- und Öffentlichkeitsarbeit sowie durch Handel einen Beitrag dazu zu leisten, die Ungerechtigkeit im Verhältnis zwischen Dritte Welt- und Industrieländern zu vermindern, Verelendung aufzuhalten, menschenwürdige Lebensverhältnisse (wieder)herzustellen und ein anderes, an den Zielen der Nachhaltigkeit, der Gerechtigkeit, der Gewaltfreiheit und der möglichst weitgehenden Beteiligung aller Menschen an Verantwortung und Macht orientiertes Entwicklungsmodell durchzusetzen. Dieses andere Entwicklungsmodell, das auf den Nenner "ARMUT (im Sinn von Einfachheit, Bescheidenheit und im Gegensatz zu Elend!) IN WÜRDE FÜR ALLE" zu bringen ist, kann nur durch aktives Handeln der Betroffenen erreicht werden – der unter Elend und Ungerechtigkeit Leidenden ebenso wie derjenigen, die vom Elend anderer und von den Strukturen der Ungerechtigkeit profitieren. "Armut in Würde" bedeutet für uns die Befriedigung aller Grundbedürfnisse und darüberhinaus genügend Freiraum für gesellschaftliches, kulturelles, intellektuelles und religiöses Leben, Raum, das Leben zu genießen. Menschliche Würde geht verloren, wenn Menschen ihre Energie und Zeit ganz auf die pure Erhaltung der physischen Existenz verwenden müssen. Wir erinnern an die positive Bedeutung des Begriffs 'Armut' in Religionen wie dem Christentum und dem Buddhismus und in politischen/philosophischen Lehren wie derjenigen Gandhis und wagen die These "Armut befreit!";- die einen vom Elend, die anderen von zerstörerischem Überfluß, und alle von der Besessenheit, haben zu wollen anstatt einen Charakter des Seins zu entwickeln. (Wir beziehen uns auf Erich Fromm, 'Haben oder Sein?'.)
Deshalb versuchen wir in Deutschland (und anderen europäischen Ländern) das Bewußtsein der Menschen für die Auswirkungen unserer materiell anspruchsvollen Lebens- und Wirtschaftsweise zu schärfen, die die gesamte Menschheit in eine vielleicht ausweglose Sackgasse der Selbstzerstörung zu führen scheint. Die Gesellschaften der Industrieländer haben für viele Menschen in der Dritten Welt Vorbildcharakter – daraus ergibt sich unsere doppelte Verantwortung:
Zum einen müssen wir aus Gründen der Gerechtigkeit unseren unverhältnismäßig hohen Energie- und Ressourcenverbrauch auf ein weltweit vertretbares Maß reduzieren, zum anderen müssen wir aus Gründen der Glaubwürdigkeit durch einen neuen Lebensstil deutlich machen, daß wir es mit unseren Warnungen vor einem ökologischen Kollaps der Erde, wenn alle sich unseren heutigen Lebensstandard zu eigen machten, ernst meinen. (Als warnendes Beispiel halten wir uns vor Augen, daß 1 Bundesbürger so viel Energie verbraucht wie etwa 25 Inder gemeinsam. Indien würde also erst bei einer Bevölkerung von 2 Milliarden – heute: 800 Mio. – den heutigen Energieverbrauch des kleinen Deutschland erreichen.)
Wir versuchen all dem Denk- und Lebensweisen positiv gegenüberzustellen und zu fördern, die den gleichberechtigten Anspruch aller Menschen auf Befriedigung der Grundbedürfnisse anerkennen. Solidarität soll mehr gelten als rücksichtslose Selbstverwirklichung, kulturelle, geistige, moralische Werte mehr als materielle, Kreativität mehr als Konsum. Mit der Natur soll so umgegangen werden, daß sie uns langfristig als Basis allen menschlichen Lebens erhalten bleibt. In Indien wie in Deutschland gehen wir konkreten Ansätzen solchen zukunftsorientierten solidarischen Handelns in globaler Verantwortung nach, das die von uns gewünschte sozial und ökologisch verträgliche, nachhaltige, sowie partizipatorische Lebens- und Wirtschaftsweise vorantreibt. Negative Beispiele aus Deutschland (z.B. Müll- und Verkehrsproblematik) sollen in Indien die Abkehr von der kritiklosen Übernahme "westlicher" Werte verstärken, umgekehrt wollen wir mit Beispielen aus Indien Solidarität wecken und dazu motivieren, aktiv zu werden.
Die IH versucht, sich von Ideologien und Dogmatismus freizuhalten und sich allein an der Realität und den gewählten Werten und Zielen zu orientieren.
Wie wir unsere Ziele verwirklichen vollen:
Unsere Öffentlichkeitsarbeit über globale Zusammenhänge, beispielhaft dargestellt an den Ländern Indien und Deutschland, und über die Konsequenzen unserer eigenen Lebensweise, ist handlungsorientiert, d.h. sie zielt in erster Linie auf eine Veränderung unseres Handelns, nicht lediglich auf eine Erweiterung unseres Wissens oder Bewußtseins. Ein besonderer Schwerpunkt unserer Öffentlichkeitsarbeit ist die Auseinandersetzung mit der Situation der indischen Stammesvölker (Adivasi).
Die IH sammelt im oben dargestellten Sinn "entwicklungsrelevante" Informationen, bereitet sie aktionsorientiert auf und macht sie anderen Interessierten zugänglich. Sie bemüht sich um "Vernetzung" mit anderen Gruppen, Organisationen, Institutionen, sowie interessierten Einzelnen. Die IH bemüht sich darum, in Deutschland, bzw. in Europa, die Interessen der benachteiligten Gruppen der indischen Bevölkerung zu vertreten ("advocacy").
In Indien kooperieren wir im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit mit einheimischen Partnerorganisationen, die Projekte und Maßnahmen durchführen, um benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu einem gerechten Anteil an den nationalen Gütern und zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen. Mit unseren Partnern führen wir einen kontinuierlichen persönlichen Dialog über die Ziele des Entwicklungsprozesses und die Methoden für ihre Verwirklichung.
Die Auswahl zuverlässiger Partnerorganisationen und ihre institutionelle Stärkung spielen für uns eine zentrale Rolle, da wir es für illusionär halten zu glauben, eine deutsche Organisation wie die unsere könne direkten Zugang zu den Zielgruppen (Menschen unter der Armutsgrenze—marginalisierte und Kleinbauern, Stammesvölker, untere Kasten, Slum- und Straßenbewohner usw., jeweils unter besonderer Berücksichtigung der Frauen) finden und mit ihnen zusammenarbeiten. Unsere Erfahrung zeigt, daß das in der Regel bereits am Fehlen einer gemeinsamen Sprache scheitert. Von der Glaubwürdigkeit und Effektivität unserer Projektpartner versuchen wir uns immer wieder zu überzeugen.
Bei der Auswahl unserer Partnerorganisationen achten wir auf demokratische Strukturen und möglichst weitgehende Beteiligung der Betroffenen an Planung, Entscheidungsprozeß und Durchführung von Projekten, Programmen und sonstigen Aktivitäten. Die IH führt keine eigenen Projekte durch, sondern unterstützt bestehende Initiativen. Unsere Förderung soll die indischen Partnerorganisationen nicht von uns abhängig machen. Wir setzen voraus, daß bestehende Fördermöglichkeiten der indischen Regierung/Landesregierungen und sonstiger Stellen vor allem in den Bereichen Infrastruktur, Wohlfahrt, Kleinkreditvergabe in Anspruch genommen, zumindest nominale Kostenbeiträge für Leistungen erhoben und Spenden, Mitgliedsbeiträge und freiwillige Arbeitsleistungen lokal mobilisiert werden. Während die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit indischen Organisationen zeitlich unbegrenzt ist, soweit und solange wir uns auf gemeinsame Ziele einigen und uns gegenseitig vertrauen können, sollen Einzelmaßnahmen auf einen überschaubaren, angemessenen Zeitrahmen begrenzt sein. Einzelmaßnahmen sollen möglichst Vorbildcharakter haben und Anstöße zu weitergehenden Aktivitäten geben.
Schwerpunkte der Projektarbeit
Die IH fördert bevorzugt ländliche Verbundprojekte mit einem ganzheitlichen Ansatz. Maßnahmen, z.B. in den Bereichen Erziehung, Bildung und Ausbildung, Gesundheit, Landwirtschaft, Handwerk, Kleingewerbe und Dorfindustrie, angepaßte Technik, Wohnen, Kapitalbildung, Genossenschaftswesen, Umwelt- und Ressourcenschutz, Bewußtseinsbildung und Organisierung der Betroffenen, sollen sich gegenseitig ergänzen und in ihrer Wirksamkeit verstärken. Mögliche ökologische Folgen sind grundsätzlich immer bei der Auswahl von Maßnahmen zu berücksichtigen. Ein besonderer Schwerpunkt ist die Förderung eines menschen- und naturgemäßen (ökologischen) Landbaus in Indien. Einzelne Programme werden gefördert, wenn sie nicht Selbstzweck sind sondern Teil eines umfassenderen Entwicklungsprozesses.
Die spezielle Förderung von Frauen als in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht besonders benachteiligter Gruppe ist für die IH selbstverständlich. Sie findet aber nicht unbedingt in gesonderten "Frauenprojekten" statt. Vielmehr wird jedes von der IH geförderte Projekt auf seine Auswirkungen auf Frauen hin geprüft. Es wird sichergestellt, daß Projektmaßnahmen immer auch darauf hinzielen, die Position von Frauen zu stärken durch Organisierung, durch wirtschaftliche Förderung, durch Ausbildung und Bewußtseinsbildung, durch spezielle Gesundheitsprogramme usw.
Die IH kann auch mit Partnerorganisationen zusammenarbeiten, die in städtischem Milieu aktiv sind. Sie kann in lebensbedrohenden Situationen auch Katastrophenhilfe leisten.
Die IH kooperiert grundsätzlich nur mit Organisationen, die Gewalt als Mittel zur Veränderung für sich ausschließen und sieht eine hohe Priorität in der aktiven Förderung von Maßnahmen der Bewußtseinsbildung, die auf Toleranz, besseres Verständnis und Interessenausgleich zwischen Angehörigen verschiedener religiöser, ethnischer oder Kastengruppen zielen. Im Rahmen der Bewußtseinsbildung wird der Aufbau von Organisationen der Betroffenen angestrebt, bzw. werden solche gestärkt, wie z.B. Frauengruppen, sog. Jugendclubs, Dorfkomitees, Genossenschaften/Kooperativen, Spar- und Kreditvereine, Gewerkschaften und andere Selbsthilfegruppen. Wichtige Elemente der Bewußtseinsbildung sind die Abhaltung von Treffen und Seminaren, die Förderung und Ausbildung von Führungspersönlichkeiten (insbesondere auch Frauen!), nicht-formale Bildung, Durchführung von Studien, Organisationen von kulturellen Veranstaltungen, z.B. Landwirtschaftsfesten, Ausstellungen, Gedenkfeiern. Es kann auch zu Protestaktionen, Demonstrationen, Aktionen des gewaltfreien sozialen Widerstands und zivilen Ungehorsams kommen.
Wichtige Voraussetzungen für die Zusammenarbeit
Patentrezepte zur Verbesserung der bestehenden Situation gibt es nicht: Projekte tragen im Allgemeinen experimentellen Charakter und müssen kontinuierlich an ihren tatsächlichen Resultaten gemessen werden. Bestandteil unseres Dialogs mit den Partnerorganisationen ist deshalb die regelmäßige Diskussion über die Fortentwicklung ihrer Arbeit, in schriftlicher (Projektberichte, Jahresberichte, Korrespondenz, Evaluierungen durch Gutachter) und in mündlicher Form (Gespräche bei unseren Projektbesuchen oder Besuchen von Projektpartnern bei uns). Auch wir informieren über unsere Arbeit durch Korrespondenz, Übersetzung wichtiger Protokolle und Berichte ins Englische, Gespräche. Wir fordern regelmäßige Abrechnungen und Kopien der Gesamtbilanzen, wie wir auch unsere jährlichen Kassenberichte offenlegen. Beim Umgang mit öffentlichen Geldern (Spenden, Zuschüsse etc) halten wir prinzipiell größtmögliche Transparenz für unerläßlich – das beziehen wir auf uns selbst genauso wie auf die Partnerorganisationen, die Gelder nur erhalten und verwalten, um sie den Zielgruppen so effektiv wie möglich zugute kommen zu lassen. Sie sind genauso rechenschaftspflichtig wie wir selbst.
Besondere Bedeutung haben für uns die immer privat finanzierten Projektbesuche vor Ort und die privat und aus zweckgebundenen Spenden finanzierten Besuche von Mitarbeiter/innen der Partnerorganisationen bei uns. In der direkten, perönlichen Begegnung realisiert sich für uns Partnerschaft, werden gegenseitiges Vertrauen und Respekt möglich, lernen wir uns trotz des unterschiedlichen kulturellen Hintergrunds besser verstehen.
Weitere Kriterien für Projekte der IH sind:
- geographischer Schwerpunkt sind Westbengalen und die angrenzenden Bundesstaaten
- keine Bevorzugung bestimmter Religionen, Kasten oder Rassen
- die Projektarbeit soll außerhalb ihres eigentlichen Zielgbietes keine negativen Folgen haben
Wir verstehen diese Grundsätze als unseren derzeitigen Diskussionsstand. Sie sollen im Dialog mit unseren Partnern, Freunden, Mitgliedern weiterentwickelt werden.