Projekte 2024-25
Für 2024-25 (das indische Finanzjahr läuft vom 1.4. bis 31.3.) hat die Indienhilfe 8 Projekte bei 8 Partnerorganisationen bewilligt:
Wenn Sie auf den Projekt-Namen klicken, erhalten Sie weitere Infos zum jeweiligen Projekt. Bitte lesen Sie auch uns übergreifendes Konzept zum Thema Kindeswohl.
Partner | Projekt | Gebiet | Betrag | Spenden-Stichwort |
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Adelphi gGmbH Berlin | Trinkwasserprojekt in Chatra | North 24 Parganas | 23.000 € | Trinkwasser Chatra |
DMSC | Betrieb von zwei Sozialzentren für Nachnis und Jhumurs | Purulia | 31.000 € | Purulia |
Hijli Inspiration | "Grüne Kommune Chatra - Schwerpunkt Wasser" | Chatra Gram Panchayat, N-24-Parganas | 29.000 € | Trinkwasser Chatra |
KJKS | Kindzentrierte Entwicklung (Adivasi-Dörfer) | Jhargram (früher: West Midnapur) |
46.000 € | Adivasi |
KTfHD | Klimaanpassung Chatra | Chatra Gram Panchayat, N-24-Parganas | 31.000 € | Trinkwasser Chatra |
Lake Gardens | Kinderkrippen für Kinder arbeitender Mütter | Slums in Kalkutta | 39.000 € | Kinderkrippen |
Sanchar |
Gemeindenahe Rehabilitation behinderter Kinder |
Howrah | 58.000 € | Behindertenarbeit |
Seva Kendra Calcutta (SKC) | Schaffung von Kommunen ohne Kinderarbeit | North 24 Parganas | 49.000 € | Kinderarbeit |
GESAMTSUMME 306.000 €
Alle Beträge beinhalten eine Pauschale von 15 % für:
- Projektplanung
- Monitoring/Impact Assessment/Wirtschaftsprüfer
- Weiterentwicklung
- Partnertraining und Fortbildungen (Capacity Building)
- Vernetzung der Partner-NGOs
Aktuelle Berichte und Kurzbeschreibungen der Projekte:
Die Projekte der Indienhilfe in Westbengalen, Indien: mit wem? für wen? was und wie?
(Corinna Wallrapp)
Sariful Gazi, ein neunjähriger Junge aus einem abgelegenen Dorf, Gobindapur, geht gerne zur Schule, aber immer wieder kommt er mit dem Lernstoff nicht zurecht. Sariful lebt mit seinen Eltern und einem älteren Bruder in der Grenzregion zu Bangladesch. Die Eltern haben kein eigenes Land zur Bewirtschaftung. Sein Vater arbeitet als Gelegenheitsarbeiter auf Feldern anderer. Seine Mutter sammelt Pflanzen und Krebse im nahegelegenen Fluss, die sie auf dem Markt verkauft. Der Verdienst ist unsicher, meist reicht das Geld nicht für den Lebensunterhalt. Deshalb arbeiten die Eltern zusätzlich jedes Jahr in der Trockenzeit als Wanderarbeiter in Lehmziegel-Brennereien. Die Arbeit wird stückweise nach geformten Ziegeln bezahlt. Je mehr Hände helfen, desto mehr Ziegel können geformt werden. Deshalb müssen Sariful und sein Bruder mitwandern und mitarbeiten, auch wenn die körperliche Arbeit mit dem schweren Lehm für die Kinder viel zu anstrengend ist und sie deshalb für zwei bis drei Monate die Schule verpassen.
Sariful ist nur einer der ca. 500 Millionen Menschen, die zu den 30-40 % Armen in Indien gehören. Sariful jedoch hat das Glück, in der Region unseres Projektes „Child Labour Free Gram Panchayats“ unseres Partners Seva Kendra Calcutta (SKC) zu leben. Seit einem Jahr geht er regelmäßig in den Nachhilfeunterricht, der im Rahmen des Projekts angeboten wird, um seine Lerndefizite aufzuholen, und wo er lernt, selbstbewusst aufzutreten.
Auch sein Vater konnte vom Projekt profitieren: Durch die Vernetzung mit anderen Gemeindemitgliedern konnte er eine besser bezahlte und regelmäßige Arbeit bei lokalen Fischern finden, so dass die Familie nicht mehr zu den Ziegeleien migrieren muss. Ob Sariful später eine andere Arbeit als seine Eltern finden wird, hängt von vielen Faktoren ab. Ein guter Schulabschluss an einer weiterführenden Schule, ausreichende und ausgewogene Ernährung als Kind und eine starke Persönlichkeit erhöhen auf jeden Fall seine Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben ohne Armut (s. Artikel „Warum für Indien spenden?“).
Im Moment unterstützt die Indienhilfe sechs Projektpartner mit acht verschiedenen Projekten in abgelegenen und benachteiligten Regionen Westbengalens. Jedes Projekt ist an die jeweilige Situation vor Ort angepasst; gemeinsam ist jedoch allen das Ziel, die Situation der Kinder nachhaltig zu verbessern. Hierfür fördern wir in allen Projekten einen verbesserten Zugang zu Bildung durch motivierenden Nachhilfeunterricht, um bei den Kindern spielerisch Freude am Lernen zu wecken und die Lerndefizite auszugleichen, die neben den familiären Faktoren oft auch mangelhaften staatlichen Schulen geschuldet sind. Durch Hausbesuche und Gruppentreffen mit Eltern und Familien, vor allem den Müttern, verstehen die ProjektmitarbeiterInnen die Situationen in den Familien besser und unterstützen sie je nach Bedarf, z.B. bei der Herstellung von Kontakten oder der Beantragung staatlicher Leistungen und Programme. Letztere vervielfachen jeden von Ihnen gespendeten Euro!1 Für Schwangere und Kinder bis zu 6 Jahren steht die Motivation zur Nutzung der staatlichen Integrated Child Development Services (ICDS) – Mutter-und-Kind-Zentren – im Mittelpunkt: Schwangerenbetreuung, tägliche Mahlzeit für die Kleinkinder, Impfungen, Gesundheits-Checks, ggf. Arzt-Überweisung, nonformale Vorschulbildung, Verhütungsberatung etc. Das Projektteam klärt bei Elterntreffen über ausgewogene Ernährung, Gesundheitsvorsorge, Hygiene und Kinderschutz, gewaltfreien Umgang in der Familie auf, stärkt die Frauen. Kontaktherstellung zu Schulen, Ämtern, Gemeindeverwaltungen, Behörden und Institutionen soll die Situation der Kinder positiv verändern, u.a. auch durch Aufzeigen von Mängeln oder Missständen in staatlichen Einrichtungen. Ein zentraler Aspekt ist die Förderung von Selbstorganisation in den Kommunen: die Menschen befähigen, selbst und gemeinsam ihre Probleme anzugehen, ihre Rechte durchzusetzen (Hilfe zur Selbsthilfe).2
Sariful und seine Familie stehen beispielhaft für unsere Zielgruppen in den Projekten: sozio-ökonomisch und kulturell benachteiligte Familien, die in prekären Lebensverhältnissen leben und kaum Möglichkeiten haben, ihre Situation aus eigener Kraft langfristig zu verbessern und ihre Kinder aus der Armutsfalle zu befreien. Noch viele andere Kinder sind auf Hilfe angewiesen. Ihre Spende hilft, dass wir noch mehr Kinder und deren Familien mit unseren Projekten erreichen.
FN 1: Infobrief 3/2022, S.4-5: „Wie unsere Projektpartner die Nutzung staatlicher indischer Hilfsprogramme befördern: Beispiel SANCHAR und unser Projekt für Kinder mit Behinderungen“, https://indienhilfe-herrsching.de/sites/default/files/Dokumente/Infobriefe/Indienhilfe-Weihnachtsinfo-2022.pdf
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„Im Bildungsbereich erzielte KJKS enorme Erfolge in den Projektdörfern im Vergleich zu
nicht-unterstützten Dörfern in der Region“ – Evaluierungsergebnisse unseres Adivasi-Projekts
(Corinna Wallrapp, Infobrief 1/2024)
„KJKS hat einen sehr guten Ruf in der Region und konnte im Bildungsbereich enorme Erfolge erzielen“, berichtet Dr. Ujjaini Halim, eine Gutachterin mit nationaler und internationaler Projekt- und Evaluierungserfahrung, die für uns die Evaluierung unseres Projektes mit dem Partner KJKS im September 2023 durchführte. Ujjaini war überrascht, wie extrem entlegen die Projektregion im Jhargram Distrikt ist, wie schwierig die soziale und ökonomische Situation für die dortige – überwiegend indigene – benachteiligte Bevölkerung ist und somit natürlich auch, wie schwierig es dadurch für KJKS ist, ein qualitativ hochwertiges Projekt mit guten Ergebnissen durchzuführen.
Seit 2016 arbeiten wir mit KJKS in der Projektregion, um den Zugang zu Bildung für Kinder und Jugendliche und die Ernährungssituation in den Projektdörfern zu verbessern und die Einhaltung von Kinderrechten zu fördern. In den letzten acht Jahren wurden insgesamt über 1.100 Haushalte und 2.220 Kinder aus mindestens 36 Dörfern durch die Projektmaßnahmen erreicht, über 330 Familien wurden beim Aufbau von Küchengärten unterstützt. Einige Dörfer wurden nur für eine 3-Jahres-Phase unterstützt, andere über viele Jahre, je nachdem, wie hoch der Bedarf war und wie schnell die Veränderungen von den Dorfbewohnern aufgenommen wurden. Im Rahmen der Evaluierung untersuchte Ujjaini mit ihrem Mitarbeiter Suman Mondal sechs der insgesamt 19 unterstützten Dörfer, in denen KJKS von 2021 bis März 2024 aktiv war, sowie zwei „Kontrolldörfer“ aus der Umgebung, die bisher keine Unterstützung durch das Projekt erfahren haben. Sie sprachen in Einzel- oder Gruppeninterviews mit den DorfbewohnerInnen, den Kindern, Jugendlichen und Eltern, sowie Projektmitarbeitenden, RegierungsvertreterInnen und Lehrkräften, verglichen die Ergebnisse und werteten ihre eigenen Beobachtungen aus.
Insbesondere die Projektaktivitäten im Bildungsbereich wurden von allen Beteiligten in der Projektregion sehr gut bewertet. Die Kinder gehen gerne in die Nachhilfezentren, die in jedem der 19 Projektdörfer aufgebaut wurden (im Jahr 2023 nahmen regelmäßig über 650 Kinder teil), und haben Spaß am Lernen, Basteln und kreativen Arbeiten; Eltern in den Projektdörfern entwickelten ein besseres Verständnis für die Bedeutung von Bildung und einem regelmäßigen Schulbesuch; die Projektmitarbeitenden entwickelten im Lauf der Zeit eine gute Zusammenarbeit mit den umliegenden Schulen und Behörden, um auf die Herausforderungen insbesondere der Adivasi-Bevölkerung aufmerksam zu machen und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. In den Bereichen Ernährung, Gesundheit, Hygiene und Förderung von Kinderrechten betrieb KJKS vor allem Aufklärung und Sensibilisierung. Hier waren die Erfolge des Projekts weniger sichtbar im Vergleich zu der Situation in den Kontrolldörfern. Jedoch konnten KJKS-Mitarbeitende auf einige Fälle von Missachtung von Kinderrechten aufmerksam machen und zu einer Lösung beitragen. Ebenfalls entstanden mit der Unterstützung von KJKS in einigen Dörfern aktive Jugendgruppen „Units for Us“, die diese Themen aufgreifen, in ihren Gruppen diskutieren und zum Teil sehr selbstbewusst umsetzen. Dies hat vor allem für die Zukunft Potential.
Sehr positiv bewertete Ujjaini, dass vor Ort nur Mitarbeitende aus der Region tätig sind, die mit den lokalen Gegebenheiten bestens vertraut sind. Sie beobachtete jedoch, dass die Fähigkeiten der Mitarbeitenden sehr unterschiedlich sind. Im Rahmen regelmäßiger Weiterbildungen für alle Mitarbeitenden sowie durch sehr enge Zusammenarbeit untereinander und mit dem Management-Team versucht KJKS, allen die nötige Unterstützung anzubieten und die unterschiedlichen Fähigkeiten auszugleichen. Auch in Zukunft werden Mitarbeiterschulungen fester Bestandteil des Projekts sein.
Die Ergebnisse und Empfehlungen der Evaluierung diskutierten wir mit KJKS, zusammen mit unserem ExpertInnen-Team in Kolkata, um die Projektaktivitäten für die neue Projektphase (April 2024 bis März 2027) entsprechend anzupassen. Zugleich hat es sich ergeben, dass die deutsche NGO German Doctors e.V. im Oktober 2023 ein Projekt im Bereich Gesundheit und Hygiene in der gleichen Projektregion mit KJKS begonnen hat und Misereor in der Region ein Projekt zur Verbesserung der Ernährungssituation durchführt. Um eine sinnvolle Ergänzung der Maßnahmen zu gewährleisten und Doppelfinanzierungen zu vermeiden, stehen wir in engem Austausch mit den Organisationen. Somit liegt der Hauptfokus unseres Projekts seit April 2024 auf Bildung und Förderung von Kinderrechten.
Wir führen die Nachhilfezentren für Kinder von 4 bis 14 Jahren weiter und arbeiten mit der Dorfgemeinschaft, den Jugendgruppen, den umliegenden Schulen und den staatlichen Behörden noch intensiver an den Themen „Relevanz von Bildung“ und „Einhaltung von Kinderrechten“. Besonders erfreulich ist, dass in 8 der 19 von uns in 2023 unterstützten Dörfer die Veränderungsprozesse innerhalb der Dorfgemeinschaft so weit gediehen sind, dass keine intensiven Projektmaßnahmen mehr nötig sind, lediglich kleinere Begleitmaßnahmen. Somit konzentrieren wir unsere Aktivitäten auf 11 der bisher unterstützten Dörfer und beginnen neue Maßnahmen im Dorf Chunpara, in dem großer Bedarf besteht.
Wie viele andere Studien aus ländlichen Gebieten in Indien kommt auch unsere Evaluierung zu dem Ergebnis, dass formale Bildung, ergänzt durch außerschulische Allgemein- und Persönlichkeitsbildung, Schlüssel für eine langfristige Veränderung gerade in entlegenen und rückständigen Gebieten ist. Die junge Generation bekommt dadurch bessere Chancen für gesellschaftliche Teilhabe im sich schnell entwickelnden Indien, ohne dabei Identität und wertvolles indigenes Wissen zu verlieren – ein großes Ziel, das wir weiterhin mit unserem Partner KJKS in möglichst vielen Dörfern verfolgen wollen.
Ihre Spende hilft, dass benachteiligte Adivasi-Kinder aus dem abgelegenen Jhargram-Distrikt Westbengalens einen Weg aus bitterer Armut, ja Hunger, aus Abhängigkeit hin zu einer selbstbestimmteren freieren Lebensperspektive unter Wahrung ihrer Identität finden können.
Projektkosten: „Kindzentrierte Entwicklung (Adivasi-Dörfer)“ 2024/25: etwa 46.000 € (ca. 90 €/Kind)
Stichwort: Adivasi
Evaluierung KJKS, Fallgeschichte 1: Behula Kotal, Mutter von vier Kindern aus Singdhui, Jhargram Distrikt: „Meine Töchter können von der weiten Welt träumen, dank der Unterstützung von KJKS.“
Behulas Tag beginnt früh. Sie kümmert sich um ihre Schwiegereltern, kocht Essen für die sechsköpfige Familie, holt Wasser und Feuerholz und sammelt Heilkräuter und andere Pflanzen im Wald, die sie zu geringen Preisen verkaufen kann. Ihr Mann arbeitet als Tagelöhner. Ein eigenes Feld besitzen sie nicht. Sie haben wenig Geld zur Verfügung. Ihre vier Kinder gingen alle in die nahe gelegene Grundschule, doch sie hatten einige Schwierigkeiten. Um ihre älteste Tochter „gut“ unterzubringen, verheiratete Behula sie jung im Alter von 16 Jahren. Ihr Sohn besuchte eine weiterführende Schule, verlor jedoch während der fast zweijährigen Schulschließung in der Corona-Pandemie den Anschluss und brach die Schule mit 15 Jahren ab. Die Familie konnte sich kein Smartphone für den Online-Unterricht leisten. Sie bekamen in der Zeit zwar Unterstützung von der Regierung, doch das Geld reichte gerade dafür, die Familie zu ernähren. Die Corona-Zeit bedeutete einen harten Rückschlag. Der Sohn arbeitet nun wie der Vater als Tagelöhner. Ihre zwei jüngsten Töchter Mayna und Rinki hatten bereits in der Grundschule sehr große Schwierigkeiten, vor allem in den Fächern Englisch und Mathematik. Behula und ihr Mann können den Kindern bei den Schulaufgaben nicht helfen, weil sie selbst nicht lesen und schreiben und kein Englisch können. Geld für private Nachhilfestunden haben sie nicht. Als Behula 2018 von dem neuen Nachhilfezentrum von KJKS in ihrem Dorf hörte, war sie zunächst skeptisch, aber meldete Mayna und Rinki dennoch an. Dies veränderte das Leben ihrer Töchter von Grund auf: Sie konnten beide den Lernrückstand aufholen und bekamen dank ihrer guten Noten in der Grundschule einen Platz in einem staatlichen Wohnheim für Schülerinnen der High School. Sie können nun beide auf die weiterführende Schule gehen, die viele Kilometer entfernt von ihrem Dorf liegt. Rinki möchte später Lehrerin werden, Mayna möchte bei der Regierung arbeiten. Ihre Mutter ist sehr stolz auf die beiden Töchter. „Jetzt dürfen sie träumen“, sagt sie. Mit einer guten formalen Bildung als Basis haben sie echte Chancen, dass ihre Träume Wirklichkeit werden.
Evaluierung KJKS, Fallgeschichte 2: Sonali (16 Jahre) aus Rajbandhpara, Jhargram-Distrikt: „Dank dem Zusammenhalt und Austausch in meiner Jugendgruppe konnte ich mich gegen eine arrangierte Heirat durch meine Mutter wehren!“
Eltern in der Projektregion von KJKS sehen es oft als ihre Pflicht an, sich frühzeitig um eine „gute“ Heirat für ihre Töchter zu kümmern - obwohl gesetzlich Mädchen erst ab 18, Jungen ab 21 heiraten dürfen. So sollte es auch für die sechzehnjährige Sonali aus Rajbandhpara arrangiert werden: Ihr Vater ist früh verstorben und ihre Mutter fühlt sich verantwortlich, ihrer Tochter eine „gute“ Zukunft zu organisieren, die für sie in einer frühen Heirat und Gründung einer eigenen Familie besteht. Sonali denkt jedoch anders. Seit einiger Zeit trifft sie sich mit Freundinnen in einer Jugendgruppe, die die KJKS-Mitarbeiterin Jhuma Manna begleitet. Dort sprechen sie über Rechte, Hygiene, Gesundheit, Ernährung und viele andere soziale und kulturelle Themen, die für die jungen Mädchen wichtig sind, so auch über Kinder- und arrangierte Ehen. Und sie träumen manchmal davon, was sie aus ihrem Leben machen und was sie in ihrem Dorf verändern möchten.
Eines Tages wundern sich ihre Freundinnen und KJKS-Mitarbeiterin Jhuma, dass Sonali nicht mehr zu den gemeinsamen Treffen der Gruppe kommt. Als sie nachfragen, schreibt Sonali ihnen einen Brief, in dem sie erklärt, dass ihre Mutter sie verheiraten möchte, sie aber nicht will. Die Freundinnen und Jhuma beschließen, ihr zu helfen. Zunächst sprechen sie mit der Mutter, doch als diese nicht einlenkt, wenden sie sich an die Mitglieder des Gemeinderats (Gram Panchayat Members). Diese zögern zuerst, da sie sich in kulturelle Gepflogenheiten der Adivasi nicht einmischen wollen, obwohl es ihre Pflicht wäre, Kinderehen vor dem 18. Geburtstag von Mädchen, meist gegen ihren Willen und eine Straftat, zu verhindern. Erst nach langem Drängen und als Jhuma schließlich droht, die Polizei zu benachrichtigen, sind die Gemeinderäte bereit, mit Sonalis Mutter und der Familie zu sprechen. Am Ende willigt die Mutter ein, die Heirat abzusagen.
Sonalis Fall dient nicht nur für das Dorf, sondern für den gesamten Gram Panchayat (Kommune, meist bestehend aus einer größeren Zahl kleiner Dörfer und winziger Weiler) als Beispiel, dass es die Pflicht der DorfbewohnerInnen und GemeindevertreterInnen ist, gegen Kinderehen vorzugehen, auch wenn diese in der Region kulturell stark verankert sind. Durch den Mut von Sonali und die Unterstützung ihrer Freundinnen aus der Jugendgruppe, der KJKS-Mitarbeiterin Jhuma Manna und am Ende der GemeindevertreterInnen kann Sonali nun weiterhin zur Schule gehen und vielleicht irgendwann selbst entscheiden, wann und wen sie heiraten möchte.
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Das Team von „Lake Gardens“ setzt erste Inklusions-Maßnahmen um
– ein toller Erfolg des Projektes Moving Ahead
(Corinna Wallrapp, Infobrief 1/2024)
Das Lake Gardens Women & Children Development Centre ist eine unserer ältesten Partnerorganisationen, mit der wir seit 2005 Krippen für Kinder aus Slums in Kolkata betreiben, um sie sicher zu betreuen und auf die Einschulung vorzubereiten, während die Eltern arbeiten müssen. Immer wieder gibt es in den Krippen und Slumsiedlungen Kinder, die eine verzögerte Entwicklung oder andere Auffälligkeiten zeigen. Daher haben wir im April 2023 Lake Gardens als eine von vier Partner- Organisationen für die Teilnahme an Moving Ahead ausgewählt1. Gefördert durch die Schöck-Familien-Stiftung gGmbH startete damals mit Sanchar, unserem Projektpartner für inklusive Behindertenarbeit, unser zweijähriges Projekt Moving Ahead. Seit einem Jahr trainiert, berät und unterstützt Sanchar vier unserer Projektpartner, den Blick auf Menschen mit Behinderungen zu schärfen und das Thema Inklusion in all ihre laufenden Projekte und ihre Organisationsstrukturen zu integrieren.
Von Anfang an zeigten die MitarbeiterInnen von Lake Gardens sowohl auf der Management- als auch auf der Projektebene großes Interesse an den Trainings und Treffen mit den ExpertInnen von Sanchar. Seit langem war ihnen bewusst, dass einige Kinder in den Krippen Entwicklungsverzögerungen und einen erhöhten Förderbedarf haben, waren jedoch schnell mit den entsprechenden Kindern überfordert. Es fehlte ihnen das Verständnis und Fachwissen, wie sie diese Kinder besser fördern und die Familien unterstützen können.
In unserem Projekt The Vulnerable Ones mit Lake Gardens werden 65 Kinder im Alter von ein bis fünf Jahren, die in prekären Familien- und Wohnverhältnissen in Slum-Gebieten in Kolkatas Stadtteil Lake Gardens aufwachsen, in drei Krippen betreut und gefördert und bekommen ein nahrhaftes warmes Mittagessen. So können die Eltern, und vor allem die Mütter, einer geregelten Arbeit nachgehen, ohne sich um ihre Kinder Sorgen machen zu müssen. Gleichzeitig beraten die ProjektmitarbeiterInnen die Eltern und die Familien in deren Umfeld zu Themen wie Gesundheit, Hygiene, Eröffnung von Bankkonten, Zugang zu staatlichen Leistungen, beraten die Mütter bei Fällen von (häuslicher) Gewalt. Seit diesem Jahr sensibilisieren sie nun auch für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen. In den „Communities“ ist vor allem die Wahrnehmung und Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen und deren Familien ein Problem, aber auch der Zugang zu staatlichen Förderprogrammen und speziellen Therapien. Die meisten Familien sind sehr frustriert und ungeduldig, wenn sie bei ihrem Kind keine oder kaum „normale“ Fortschritte sehen und können diese Verzögerungen nicht einordnen. Selbst, wenn sie die Behinderung ihres Kindes anerkennen und ihm helfen möchten, können sich die meisten Familien einen Therapieplatz nicht leisten oder warten vergeblich darauf.
So erging es auch der Mutter von Sujoy: Sujoy hat bereits drei Jahre lang die Colibri-Krippe von Lake Gardens besucht und kam vor kurzem altersentsprechend in die Vorschule. Er leidet jedoch an Krämpfen und kann mit fünf Jahren noch nicht verständlich sprechen. Früher hatten seine Betreuerinnen in der Krippe wenig Geduld mit Sujoy, doch nach den Trainings
urch Sanchar verstand das Lake-Gardens-Team seine Entwicklung besser und führte seit Monaten täglich mit ihm Sprechübungen nach speziellen Anleitungen von Sanchars ExpertInnen durch. Erfolge sind bereits hörbar. Doch in der Vorschule, in die er gewechselt war, fühlte Sujoy sich nicht wohl. Mit seiner Sprachstörung wurde er von MitschülerInnen und auch Lehrkräften von Anfang an ausgegrenzt. Lake Gardens hat sich nun bereit erklärt, Sujoy ein weiteres Jahr in der Krippe zu behalten und täglich mit ihm zu üben. Zugleich versuchen sie, zusammen mit Sanchar, die Mutter bei der Suche nach einem günstigen Therapieplatz zu unterstützen.
Insgesamt hat Lake Gardens in den letzten Monaten 19 Kinder mit Behinderungen in ihren Krippen und den Slums identifiziert und versucht, diese nun trotz aller Herausforderungen und Probleme in die Projektaktivitäten zu integrieren und zu fördern.
Jedes Kind mit Behinderungen und jede Familie hat andere Voraussetzungen und Bedürfnisse und benötigt deshalb individuelle Unterstützung. Das Team von Lake Gardens ist sehr motiviert, merkt aber auch, wie zeitintensiv diese zusätzlichen Aufgaben sind. Für das neue Finanzjahr 2024/25 hat die Indienhilfe die Einstellung einer weiteren Mitarbeiterin zur Unterstützung des Teams bewilligt, damit Lake Gardens dem Ziel „Leave no one behind!” ein kleines Stückchen näher kommen kann.
Auch unsere anderen drei Partnerorganisationen, die am Inklusionsprojekt teilnehmen, haben in den letzten Monaten einen geschärften Blick für Kinder mit Auffälligkeiten und deren Bedürfnisse entwickelt und begonnen, in ihren Projektgebieten verstärkt inklusive Aktivitäten umzusetzen: Neben der gezielten Förderung von Einzelfällen spielen die Aufklärung über Ursachen von Behinderung2 und die Sensibilisierung bezüglich der Stigmatisierung von Behinderung eine große Rolle. Der verbesserte Zugang zu regulären Schulen, Teilnahme, soweit möglich, am begleitenden Unterricht in den Nachhilfezentren im Rahmen der meisten Indienhilfe-Projekte, Unterstützung für den Zugang zu staatlichen Leistungen, wie Prothesen, Rollstühle, Hörgeräte, Fahrkostenzuschüsse etc., sind zentrale Bestandteile der Aktivitäten. Die meisten Familien waren bisher auf sich alleine gestellt, umso dankbarer sind sie jetzt, dass unsere Projektpartner nun auf sie zugehen und ihnen im Rahmen der Möglichkeiten bestmögliche Unterstützung anbieten. Die intensiven Trainings und Beratungen von Sanchar im Rahmen des Projektes Moving Ahead zeigen Wirkung. Die vier Organisationen wollen Inklusion in ihre Projekte integrieren und leben. Mit vielen kleinen Maßnahmen und Aufklärungsarbeit wollen wir am liebsten allen Kindern mit Behinderungen in unseren Projektgebieten gerecht werden und ihnen die notwendige Förderung für ein möglichst eigenständiges Leben verschaffen!
Für die Umsetzung bei den Pilot-Partnern benötigen wir dringend zusätzliche Spenden!
Projektkosten „Zusätzl. Inklusions-Maßnahmen“ 2024/25: etwa 19.000 €
Stichwort: Inklusion/Behindertenarbeit
FN 1: Die weiteren Organisationen sind: Hijli INSPIRATION, Seva Kendra Calcutta (SKC) und Kajla Janakalyan Samity (KJKS)
FN 2: nicht zufällig leben von weltweit 29 Millionen Kindern zwischen 0 und 4 Jahren mit einer oder mehreren Behinderungen ca. 90% in Ländern des Globalen Südens – d.h. in den weltweit ärmsten Bevölkerungsschichten, mit Unterernährung, Mangel an Hygiene und ärztlicher Versorgung etc. – siehe bezev
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Leave no one behind! Inklusion von Menschen mit Behinderung stärken –
Sanchar ist Partner der Indienhilfe beim neuen Programm „Moving Ahead“
(Corinna Wallrapp, Weihnachtsinfo 2023)
Mit verbundenen Augen steht Mitra M., Mitarbeiterin unseres Partners Hijli Inspiration, vor einem Tablett mit gefüllten Teetassen, zögerlich streckt sie ihre Hand Richtung Tasse. Ihre Aufgabe klingt einfach: Verteile die Teetassen an die anderen Personen im Raum! Doch wie viele Personen sind es? Wo stehen sie? Sind die Tassen sehr voll? Wie soll ich sie verteilen, ohne etwas auszuschütten? Mitra nimmt an einer Schulung unseres Projektpartners Sanchar teil und soll erfahren, wie sich das Leben für blinde Menschen anfühlt.
Im April 2023 konnten wir mit Moving Ahead ein wichtiges neues Programm mit unserer auf Inklusion spezialisierten Partnerorganisation Sanchar (s. Kasten) starten. Ermöglicht wird das von der Schöck-Familien-Stiftung gGmbH, die für zwei Jahre die Finanzierung bewilligt hat. In diesen zwei Jahren trainiert Sanchar vier unserer Partnerorganisationen1 und unterstützt sie dabei, Maßnahmen zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen in ihre Projektarbeit und ihre Organisationsstruktur zu integrieren.
Seit fast zwei Jahrzehnten finanziert die Indienhilfe gemeindebasierte Behindertenarbeit. Im Coronajahr 2020 nahmen die Indienhilfe-Teams Herrsching und Kolkata und alle Projektpartner an einer viertägigen Online-Fortbildung zu Inklusivem Projektmanagement durch eine Trainerin der Christoffel-Blindenmission2 teil. Seither verfolgen wir das Ziel, Inklusion – nicht nur von Kindern – als Querschnittsaufgabe in allen Projekten und mit allen Partnern aufzugreifen.
Behinderung ist nach wie vor ein schambehaftetes Tabu. Menschen mit Behinderung werden von ihren Familien oft in den eigenen vier Wänden isoliert und von der Außenwelt abgeschottet. Armut und Behinderung bedingen sich oft gegenseitig: Menschen, die in Armut leben, sind einem höheren Risiko ausgesetzt, eine Behinderung zu haben, und diese macht es wiederum sehr schwierig, der Armut zu entfliehen. Bestehende Angebote für Menschen mit Behinderung sind eher in den großen Städten zu finden und für SlumbewohnerInnen und ländliche Bevölkerungsschichten in prekären Verhältnissen mit geringer Bildung schwer zugänglich. Kinder wie Erwachsene mit Behinderungen sind vom gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben weitgehend ausgegrenzt und vermehrt von Diskriminierung und (auch sexueller) Gewalt betroffen. Zugleich kennen viele Menschen mit Behinderung ihre Rechte und Ansprüche nicht bzw. sind nicht in der Lage, diese einzufordern. Mit Sanchar hat die Indienhilfe einen idealen Partner, um Inklusion in den Partnerorganisationen und unseren Projekten voranzutreiben.
Seit April diesen Jahres wurde im Projekt Moving Ahead bereits einiges umgesetzt: erste Vor-Ort-Besuche und Bedarfsanalysen in den vier Projektgebieten durch Sanchars ExpertInnen, kombiniert mit ersten Trainings für MitarbeiterInnen, schärften deren Wahrnehmung von Menschen mit Einschränkungen. In allen Projektgebieten gibt es Kinder mit Entwicklungsverzögerungen und speziellen Bedürfnissen, die bisher nicht systematisch erfasst und angemessen gefördert werden konnten. Hier ist die Sensibilisierung der MitarbeiterInnen ebenso gefragt wie das Wissen über vorhandene Unterstützungsprogramme und Institutionen für die medizinische und therapeutische Versorgung der Kinder. Aufklärung zu Rechten und Umgang mit Stigmatisierung in Familie und Gesellschaft werden in den nächsten Wochen in intensiven Trainings von Sanchar aufgegriffen.
Als nächster Schritt ist die grundsätzliche Einbeziehung von Inklusion in die Maßnahmenplanung bei allen beteiligten Projekten zentral für das Moving-Ahead-Konzept. Für das indische Finanzjahr 2024-25 sollen alle beteiligten Partner projektspezifische Maßnahmen zur Förderung von Inklusion identifizieren, z.B. Kampagnen in den Familien und Gemeinden, Unterstützung bei der Beantragung von Behindertenausweisen und staatlichen Förderungen (z.B. für Rollstühle, Prothesen, Brillen etc.) oder Bereitstellung von Informationen zu therapeutischen Angeboten. In den Projekt Lernzentren soll der Blick für Kinder mit Auffälligkeiten geschärft werden, um ihnen individuelle Unterstützung anbieten zu können. Aber nicht nur die Indienhilfe-finanzierten Projekte und deren Zielgruppen sollen von Moving Ahead profitieren – ein Umdenken innerhalb der gesamten Organisation und – noch viel wichtiger – ein Umdenken in der umgebenden Gesellschaft sollen angestoßen werden, um dem Ziel „Leave no one behind!“ näher zu kommen.
Wir danken der Schöck-Familien-Stiftung sehr, die im Rahmen von Moving Ahead die Trainings und die Beratung bei der Entwicklung jeweils eigener Lösungen für zunächst zwei Jahre finanziert. Für die personalintensiven Maßnahmen zur verbesserten Inklusion von Menschen mit Behinderungen in allen Projektgebieten sind wir jedoch weiterhin dringend auf Spenden angewiesen, insbesondere für erforderliche zusätzliche MitarbeiterInnen!
Projektkosten „Community Based Rehabilitation“ 2023/24: etwa 30.000 €
Stichwort: Behindertenarbeit/Inklusion
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FN 1: Hijli Inspiration, Kajla Jana Kalyan Samity (KJKS), Lake Gardens Women & Children Development Centre, Seva Kendra Calcutta (SKC)
FN 2: CBM, Bensheim, mehr zum Thema unter https://www.cbm.de/informieren/armut-und-behinderung.html
Sanchar – unsere Experten für Inklusion
Junge engagierte SonderpädagogInnen um den leider bereits verstorbenen Gautam Chaudhury gründeten 1990 in Kolkata den Verein Sanchar, heute geführt von Tulika Das, Mitstreiterin der ersten Stunde. Sanchar setzt sich für Rechte und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen insbesondere in Slums und ländlichen Gebieten im Sinne der SDGs ein (UN-Nachhaltigkeitsziel SDG 10/“Leave No One Behind“ – s. https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/weniger-ungleichheiten-1592836) und hat sich zum Ziel gesetzt, zu einer Veränderung der sozial-gesellschaftlichen Strukturen beizutragen, damit Menschen mit Behinderungen respektiert und in allen Lebensbereichen gleichberechtigt einbezogen werden. Der in vielen Ländern der Welt etablierte Ansatz nennt sich „Gemeindenahe inklusive Entwicklung“ (Community Based Inclusive Development). Neben medizinischen Aspekten und Zugang zu Hilfsmitteln geht es dabei um Stärkung des familiären Umfelds, Bildung, Förderung der Existenzsicherung und einen allgemeinen sozial-gesellschaftlichen Wandel: Das Thema Behinderung soll nicht aus dem Alltag verbannt, sondern in Familie und Gesellschaft integriert werden. Sanchar bietet Organisationen in ganz Indien Beratung und Trainings an und setzt selbst Inklusions-Programme um. Seit 2016 arbeitet die Indienhilfe im Howrah-Distrikt mit Sanchar zusammen, mit Schwerpunkt auf Kindern mit Behinderung aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen, teil finanziert seit 2019 durch das Deutsche Katholische Blindenwerk, DKBW. Mehr zum Projekt unter hier. Dabei lebt Sanchar Inklusion in der eigenen Organisation vor: Die gehörlose Priyanka G. und der blinde Raman K. sind gleichwertige Mitarbeitende im Projekt-Team, bei Besprechungen ist es selbstverständlich, dass mit Gebärdensprache übersetzt wird,bzw. Präsentationen vorgelesen werden. So sieht gelebte Inklusion aus! (s.a. https://Sanchar-india.in/programme-unit-community-based-inclusive-development/)
Artikel als pdf-Datei
Info-Kasten Sanchar als pdf-Datei
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Wissenschaftlich bestätigt: Trinkwasseraufbereitungsanlage in Chatra entfernt alle Schadstoffe
(Corinna Wallrapp, Weihnachtsinfo 2023)
Nach Fertigstellung der Trinkwasseraufbereitungsanlage in Chatra, Herrschings Partnergemeinde, im Juli 2022 und mehr monatigem erfolgreichem Testbetrieb versorgt sie seit 6. Februar 2023 offiziell die Familien im Ortsteil Rasui mit sauberem Trinkwasser. Die ein Jahr lang regelmäßig entnommenen Wasserproben des aufbereiteten Wassers hielten die indischen wie internationalen Trinkwassernormen ein. Das Wasser für die Anlage wird dem nahegelegenen Fluss Padma entnommen, in einem Teich vorgeklärt und dann über ein mehrstufiges Filtrationssystem von Schadstoffen gereinigt. Die Filter bestehen aus effektiv aufeinander abgestimmten natürlichen Materialien wie Kies, Sand und Kohle, sowie Belüftungskaskade und anschließender Chlorung für die sichere Verteilung über Wasserleitungen. Ronjon Heim/adelphi research gGmbH, Berlin, unser Projektpartner, entwickelte das naturnahe Verfahren, überwachte den Bau und betreut nun die weiteren Schritte beim Betrieb mit der wissenschaftlichen Unterstützung der School of Water Resources Engineering der Jadavpur Universität in Kolkata. Das indische Department of Science and Technology finanzierte hier ein Labormodell der Filteranlage im Rahmen eines Forschungsprojektes. Vier Master-Arbeiten entstanden unter Leitung von Nilanjan Saha, Doktorand der Universität und Mitarbeiter von adelphi, und Professor Dr. Asis Mazumdar und Dr. Gourab Banerjee. Mit Hilfe von Versuchen und dem Vergleich detaillierter Laboranalysen von Wasserproben vom Fluss und vom aufbereiteten Wasser im Jahreslauf trugen sie zur Optimierung der Aufbereitung bei. Sie verglichen deren Qualitätsparameter, u.a. Sauerstoffgehalt, Trübung, Konzentration von Nitrat, Phosphat und siebzehn im Einzugsbereich häufig angewendeten Pestiziden, um die effizienteste Operation der Filteranlage zu bestimmen. Über das Jahr variiert die Wasserqualität des Flusses sehr, abhängig vor allem von den landwirtschaftlichen Aktivitäten auf den umliegenden Feldern und Monsunphänomenen, zu denen neben Überflutung auch die Verarbeitung von Jute im Fluss gehört. Obwohl teilweise sehr hohe Schadstoffwerte weit über den Trinkwassernormen im Flusswasser festgestellt wurden, konnte die Anlage all diese Stoffe das ganze Jahr über weit unter die Grenzwerte entfernen.
Die Trinkwasseranlage in Chatra zeigt, dass es möglich ist, auch stark verschmutztes Oberflächenwasser durch ein natülich-biologisches Verfahren effektiv zu filtern und zu sauberem Trinkwasser aufzubereiten. Bei weltweit absinkenden Grundwasserspiegeln, hoher Wasserverschmutzung und Wasserverknappung sind dies wichtige Ergebnisse, die nicht nur für Indien, sondern auch für andere Länder bedeutsam werden.
Der Betrieb der Anlage ist seit Oktober 2023 in der Hand der Gemeinde Chatra unter Einbindung der lokalen Bevölkerung. Dennoch werden aktuell noch dringend Spenden benötigt, um die nächsten Schritte durchführen zu können: Schutz des Teiches vor Fluten durch erhöhte und durch Bepflanzung gefestigte Seitenwände, solar betriebener Entnahmefilter für die Vorreinigung und Befüllung des Teiches mit Flusswasser, Anschaffung einer Elektrorikscha zur Verteilung des Wassers in Kanistern, solange das Leitungsnetz nicht weiter ausgebaut werden kann, und als längerfristige Aufgabe Maßnahmen zur Verringerung des Eintrags an Verschmutzungen im Einzugsgebiet.
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Projektkoordination, ländliche Entwicklung, deutsch-indische Freundschaft –
Sarthak Roy vom Indienhilfe-Projektpartner Hijli Inspiration hat in Chatra vielerlei Aufgaben
(Astrid Kösterke, Weihnachtsinfo 2023)
Wenn Sarthak Roy nach der morgendlichen Teambesprechung im zentral gelegenen Projektbüro mit dem Moped unterwegs ist nach Rasui, einem Ortsteil mit hoher Armut in Herrschings Partnergemeinde Chatra, sind seine Gedanken schon bei den Menschen dort. Hat das letzte Gespräch mit den Eltern über gute Ernährung etwas bewirkt? Wie sieht es in den Küchengärten aus? Werden die Bauern den natürlichen Dünger einsetzen? Wo gibt es heute aktuellen Unterstützungsbedarf? Und vor allem: Läuft alles bei der Trinkwasseranlage?
Sarthak ist örtlicher Koordinator des Projekts „Nachhaltige Kommune Chatra“1. Seine Hauptaufgabe ist derzeit die Koordination aller Beteiligten rund um die im Februar fertiggestellte Trinkwasser-Aufbereitungsanlage in Rasui (siehe
hier). Er muss sich z.B. darum kümmern, dass die Wassertests zuverlässig durchgeführt werden, die Wassernutzergruppe Trainings zur Wartung und Überwachung der Anlage erhält und ihren Aufgaben nachkommt. Es gilt, mit dem Bürgermeister von Chatra, dem örtlichen Wasserbauingenieur und dem indischen Mitarbeiter von Adelphi research gGmbH Kontakt zu halten. Die Funktionstüchtigkeit der Anlage beruht auf einem möglichst geringen Schadstoffeintrag in den Klärungsteich zwischen Fluss und Filteranlage aus der landwirtschaftlichen Nutzung der umgebenden Flächen. Voraussetzung ist, dass Sarthak die Bauern dafür gewinnt, möglichst organischen Landbau zu betreiben und auf synthetischen Dünger und gefährliche chemische Pestizide und Herbizide zu verzichten.
Sarthak ist 27 Jahre alt und dank seiner guten Ausbildung (Master in Agriculture & Rural Development am Ramakrishna Mission Vivekananda Educational and Research Institute) und seiner bisherigen beruflichen Erfahrungen, vor allem in abgelegenen Adivasi-Gebieten Westbengalens, Odishas, Jharkhands, Uttar Pradeshs bestens gerüstet für diese verantwortungsvolle Position. Ein einmonatiger Aufenthalt in Adivasi-Dörfern der Sunderbans (Mangroven im Mündungsgebiet des Ganges) ließ ihn tief in deren schwierige Lebenswelt eintauchen und Respekt vor ihrer Überlebenskunst entwickeln. „Dort (in den Adivasi-Gebieten) habe ich gesehen, was wirkliche Armut ist. Die Menschen hatten nichts zu essen außer Reis, da auf den versalzten Böden kaum etwas anderes angebaut werden kann. Teilweise ist aber noch altes Wissen, beispielsweise über die Nutzung von Heilpflanzen, vorhanden, das nicht verloren gehen darf. Ich möchte einen Beitrag dazu leisten, für die Verbesserung der Lebensbedingungen besonders benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu sorgen und vor allem den Kindern die Chance auf ein besseres Leben zu geben. Genau das kann ich bei Inspiration tun, auch wenn ich hier weniger Geld verdiene als in der freien Wirtschaft.“
Diese Erfahrungen bestärkten ihn in seinem Wunsch, zur Verbesserung der Lebenssituation und Ermächtigung marginalisierter Gemeinschaften und allgemein zu nachhaltiger Entwicklung beizutragen und er bewarb sich bei Hijli Inspiration um die Projektkoordinatorenstelle für unser Projekt in Chatra.
In den Gesprächen mit Sarthak geht es oft um „Respekt“ – ein zentraler Wert für ihn, der sich in all seinem Handeln widerspiegelt. Er will mit seiner Arbeit zu einer inklusiven und mitfühlenden Gemeinschaft beitragen, die sogar streunende Hunde und andere Tiere einschließt. Letztlich geht es ihm um die Achtung vor allen Lebewesen. Diese Wertvorstellung haben ihm seine Eltern vermittelt, von denen er ebenfalls mit großem Respekt spricht: „Mein Vater hat mir immer alle Wünsche erfüllt. Er war immer für mich da, hat mir zugehört. Erst später habe ich verstanden, wie hart er dafür gearbeitet hat, dass es mir gut geht.“ Sarthak ist – als einziges Kind seiner Eltern – in einem Dorf in etwa 25 km Entfernung von Chatra aufgewachsen. Sein Vater sicherte als Betreiber und Fahrer eines größeren Mietwagens das bescheidene Familieneinkommen. Sarthak ist, abgesehen vom Studium, nie umgezogen. Sein Vater hat – wie viele andere auch – einen Kredit aufgenommen, um dem Sohn das Studium zu ermöglichen.
Seit Juni 2021 arbeitet Sarthak bei Hijli Inspiration und ist schnell durch seine engagierte gute Arbeit aufgefallen. Da der Indienhilfe interne Weiterbildung ein großes Anliegen ist, schlugen wir Sarthak vor, sich für das zweiwöchige 31. Inter- nationale Seminar für Führungskräfte der Landjugendarbeit (Motto Global Denken – Gemeinsam lokal handeln) im August 2023 in Herrsching zu bewerben.2 Im Vorfeld lud die Indienhilfe Sarthak auf knapp drei Wochen im Rahmen der Städtepartnerschaft Herrsching - Chatra ein, wobei die Flugkosten aus dem Städtepartnerschafts-Budget der Gemeinde Herrsching übernommen wurden. Zwei überaus gastfreundliche Familien aus dem Umfeld der Indienhilfe nahmen Sarthak bei sich auf einschließlich Verpflegung. Kosten, die im Rahmen des Programms entstanden, wurden in der Regel von den beteiligten Deutschen ebenfalls privat bestritten.
Sarthak begleitet im Rahmen des Projekts der Indienhilfe Green Panchayat for Sustainable Development Chatra auch die seit 1996 bestehende Städtepartnerschaft zwischen Herrsching und Chatra. Neben Projektgesprächen bei der Indienhilfe war die Vertiefung dieser Tätigkeit daher der Hauptzweck seines Aufenthaltes. Es fügte sich glücklich, dass Amelie Petrick aus Herrsching im Rahmen eines Schülerpraktikums bei der Indienhilfe Sarthak während der ersten Woche bei seinen Exkursionen in Herrsching begleiten und bei der Ausarbeitung seiner Präsentation für den Herrschinger Gemeinderat unterstützen konnte. Souverän übernahm sie dann die Übersetzung des mit Fachbegriffen gespickten Vortrags über die im Februar 2023 eingeweihte Trinkwasseranlage in Rasui im Rahmen der Gemeinderatssitzung am 24. Juli. Sarthak war zu Gast in zwei Schulen, die seit vielen Jahren freundschaftliche Kontakte mit zwei Gymnasien und einer Grundschule in Chatra pflegen und die regelmäßig die Arbeit der Indienhilfe in Chatra unterstützen, durch Sponsorenläufe, Flohmärkte und so manche spontane Aktion einzelner Klassen. Vor kleinen und großen Kindern beantwortete er im Christoph-Probst-Gymnasium Gilching und in der Christian-Morgenstern Schule Herrsching Fragen zum Leben der Kinder und ihrer Familien in Chatra, zu Indien allgemein und zu seiner Arbeit. Um das Bild des übergroßen Wohlstandes in Herrsching auszugleichen, legten wir einen Schwerpunkt auf das Kennenlernen der Initiativen und Einrichtungen, die sich um Menschen kümmern, die von Armut, Wohnungslosigkeit, Einsamkeit, Sucht, Flucht und anderen Problemen betroffen sind. Bei der Herrschinger Tafel legte er selbst mit Hand an. Einblick in die Kommunalverwaltung, das Gemeindearchiv, Bildungseinrichtungen, die Arbeit der Agenda-21- Gruppen, ein Treffen mit VertreterInnen der Herrschinger Pfarrgemeinde St. Nikolaus sowie Exkursionen in die Umgebung (Freilichtmuseum Glentleiten!) waren einige der weiteren Highlights.
Am Ende seines Aufenthalts haben wir Sarthak nach seinen Eindrücken gefragt:
Wenn Du an die vergangenen fünf Wochen hier denkst, was war für Dich überraschend?
Da gibt es eine ganze Menge. Zuerst ist mir aufgefallen, dass sich alle an die Verkehrsregeln halten, und dass nicht ständig gehupt wird wie bei uns. Es ist daher auch viel leiser auf der Straße. Etwas Besonderes war für mich das (Leitungs-)Wasser, das hier sehr klar und sauber ist. Ich habe gelernt, dass man hier sehr auf den Wasserverbrauch achtet und sich darüber bewusst ist, dass – verstärkt durch den Klimawandel – Wasser nicht in beliebiger Menge zur Verfügung steht, auch wenn man hier keine Wasserknappheit sieht. Beim Besuch von christlichen Kirchen hat mich überrascht, dass sie alle so unterschiedlich sind, obwohl sich alle an den gleichen Gott wenden.
Was kannst Du für Deine Arbeit mitnehmen, auch aus dem Seminar im Haus der bayerischen Landwirtschaft?
Es hat mir sehr gefallen, wie wir hier bei der Indienhilfe nochmals unseren Projektplan im direkten Austausch intensiv diskutiert und präzisiert haben, in Ergänzung zu den Beratungen mit den indischen Beraterinnen der Indienhilfe vor Ort. Im Seminar kam ich mit Menschen aus vielen Ländern der Welt zusammen. Durch den Austausch habe ich z.B. gelernt, dass es in afrikanischen Ländern ähnliche Probleme wie in Indien gibt, mit schlechter Bildung oder Ernährung der Kinder, und wie man dort versucht, die Lebensbedingungen der Kinder zu verbessern. In Indien haben wir den Vorteil, dass es für Kinder das kostenlose Mittagessen in den Schulen gibt; das ist in anderen Ländern oft nicht der Fall.
Was hat Dir bei uns besonders gefallen?
Eigentlich hat mir alles gefallen. Am schönsten fand ich das Zusammentreffen mit den SchülerInnen. Ich werde diese Schulfreundschaften sehr gern vertiefen und den regelmäßigen Austausch (Briefe, Internet) unterstützen. Den seit vielen Jahren gepflegten kulturellen Austausch zwischen Herrsching und Chatra möchte ich stärken, das ist eine wertvolle Beziehung.
Projektkosten Nachhaltige Dorfentwicklung u.Trinkwasserprojekt Chatra 2023/2024: 48.000 €
Stichwort: Chatra
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FN 1: Hijli Inspiration (Institute for Planning, Innovative Research, Appropriate Training and Extension) ist seit 2018 Partner der Indienhilfe beim Projekt Green Panchayat for Sustainable Development Chatra (GPSD), also nachhaltige Dorfentwicklung, derzeit mit dem Schwerpunkt Trinkwasserversorgung. Ausführliche Berichte zum Projekt unter https://www.indienhilfe-herrsching.de/Trinkwasser-Chatra
FN 2: Seit 1962 veranstaltet das Haus der bayerischen Landwirtschaft in Herrsching alle zwei Jahre im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz das Internationale Seminar für Führungskräfte der Landjugendarbeit. Den Teilnehmern eröffnen sich neue Sichtweisen in der Landjugendarbeit und gleichzeitig werden ihre Führungskompetenzen durch die Erarbeitung individueller Umsetzungsstrategien und persönlicher Handlungspläne gestärkt. 2023 nahmen 77 Personen aus 46 Ländern teil! Die Teilnahme ist kostenfrei, mit
Ausnahme der Reisekosten. Quelle: https://www.international-herrsching-seminar.de/ - Details und Fotos im Tagungsband unter https://www.hdbl-herrsching.de/wp-content/uploads/2023-11-24_ISFL23-Tagungsband.pdf
“Wie kann eine Familie auf acht Quadratmetern wohnen?”
Eindrücke vom Projektbesuch
bei Lake Gardens Women and Children Development Centre in Kolkata
(Corinna Wallrapp, Sommerinfo 2023)
„Tuuut Tuuut!“ Laut und schrill tönt es durch den Slum in Tollyganj, wir schrecken zusammen. Ein Zug rattert wenige Meter entfernt an uns vorbei. Nicht sehr schnell, doch schnell genug, dass ein unachtsames Kind darunter geraten kann. Zwei Männer laufen auf den Gleisen, sie machen kurz Platz, warten bis der Zug vorbei ist, und gehen schließlich in Ruhe weiter. Alle 5 bis 10 Minuten kommt ein Zug. Die gesamte Böschung ist eng mit ein- bis zweistöckigen Häusern zugebaut, die direkt an die Bahngleise grenzen – ohne Zaun oder Lärmschutz. Schmale steile Gassen schlängeln sich durch die Häuserzeilen. Eine Frau wartet neben einem Wasserhahn ohne fließend Wasser, um sie herum sind alle möglichen Behälter zum Wasseraufbewahren aufgereiht. Seit einigen Jahren gibt es hier im unauthorized settlement öffentlich zugängliche Wasserhähne, aber Wasser gibt es täglich nur für wenige Stunden, in denen alle Behälter aufgefüllt werden müssen, sonst hat die Familie kein Wasser für diesen Tag.
Gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen unseres Partners Lake Gardens Women and Children Development Centre besuchen wir die Umgebung, in der die Kinder leben, die in die von der Indienhilfe finanzierte Kinderkrippe Colibri gehen. Mit beklemmendem Gefühl laufen wir durch die engen steilen Gassen entlang der Schienen, um einen Eindruck ihrer Lebensbedingungen zu bekommen. Vorsichtig spähen wir durch die offene Tür einer „Wohnung“: ein Raum von ca. 8 qm, darin ein erhöhtes großes Bett, unter dem Küchenutensilien und andere Gegenstände gelagert werden, an den Wänden hängt die Kleidung, weitere Möbel gibt es nicht – dies ist das Zuhause einer Familie mit mehreren Kindern. Gekocht wird vor der Tür auf der schmalen Gasse. Wir fragen uns: wo finden alle Familienmitglieder auf dem einen Bett Platz? Wo wird gekocht, wenn es regnet? Und was macht die Familie, die darüber im 2. Stock wohnt? Wo findet sie noch Platz auf der schmalen Gasse? Wo fließen die Regenmassen während des Monsuns hin? Und wo kann man sich zurückziehen, wenn man mal seine Ruhe braucht? Wo haben die Kinder Platz zum Spielen? Und wo machen sie ihre Hausaufgaben? Die Enge wirkt auf uns bedrückend, aber es ist eine beliebte Wohngegend für ärmere Familien, die auf der Suche nach Arbeit vom Land nach Kolkata kommen. Viele Frauen arbeiten als Hausangestellte in den umliegenden Wohngegenden der Mittelschicht, Männer verdienen oft als Tagelöhner oder Riksha-Fahrer ihr Geld. Leider führen häufig Alkohol, Drogen, Glücksspiel und Arbeitslosigkeit meist der Männer zu häuslicher Gewalt, unter der die Kinder und Frauen besonders leiden.
Wir gehen weiter zur Krippe Colibri, die mitten im Slum liegt. In einem kleinen hellen Raum, an den Wänden bunte Plakate und Lernpläne, sitzen 16 Kleinkinder im Kreis und essen. Die Betreuerinnen verteilen die Mahlzeit und unterstützen, wo nötig. Im Moment werden täglich 65 Kinder im Alter von 1 bis 5 Jahren in den drei Krippen von Lake Gardens betreut, gefördert und mit warmem nahrhaftem Mittagessen versorgt. Der Bedarf an Kinderbetreuung ist hier sehr hoch, damit die Mütter ihrer Arbeit nachgehen können, ohne sich um die Sicherheit ihrer Kinder sorgen zu müssen, die unbeaufsichtigt schnell an den Bahngleisen verunglücken können. Auch die Vorschularbeit ist wichtiger Bestandteil des Krippenalltags, um die Kinder, deren Eltern oft Analphabeten sind, auf die Einschulung vorzubereiten und ihnen den Übergang in die Schule zu erleichtern.
Neben der direkten Arbeit mit den Kindern hat Lake Gardens auch die Situation der gesamten Familie im Blick: in Gruppensitzungen und einzelnen Gesprächen mit den Müttern, aber auch Vätern und Ehemännern, werden drängende Themen wie häusliche Gewalt, Gesundheit, Familienplanung, Ernährung, Kinderrechte und Missbrauch angesprochen und dafür sensibilisiert. Auch wenn die Probleme in den Familien oft ähnlich liegen, braucht es doch sehr viel individuelle Unterstützung und Begleitung, um die Denkweise und die kritischen Lebenssituationen im Einzelfall zu verbessern. Seit diesem Jahr arbeitet Lake Gardens verstärkt an der Vernetzung der Frauen mit Arbeitsagenturen, potenziellen Arbeitgebern und Trainingszentren, um ihnen Zugang zu besseren Einkommensmöglichkeiten zu verschaffen. Denn neben der Stärkung des Selbstbewusstseins ist insbesondere die finanzielle Unabhängigkeit der Frauen wichtig. Auch die Väter der Krippenkinder sollen in diesem Jahr verstärkt angesprochen und bei den Elternabenden einbezogen werden, damit auch sie sich ihrer Verantwortung für die Kinder stellen und zum Wohl der Familie beitragen.
Inmitten der bedrückenden Enge des Slums mit Lärm, Dreck und Gewalt ist die Colibri-Krippe von Lake Gardens wie eine Oase, ein Rückzugsort, in dem die Kinder geschützt und sicher spielen und lernen, sich frei entwickeln können, in dem ihre Bedürfnisse und ihr Wohlergehen im Vordergrund stehen. So wird hoffentlich der Grundstein für ihre Zukunft, für ein Leben ohne Armut, gelegt! Wir danken allen SpenderInnen, die unser Krippenprojekt mit Lake Gardens schon seit vielen Jahren unterstützen.
Kosten 2023/24: ca. 38.000 € – ca. 580 €/Kind
Stichwort: Kinderkrippen
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„Es braucht Jahre, um einen Erfolg zu sehen!“
Individuelle Lösungsansätze und ein langer Atem schaffen Perspektiven für ehemalige KinderarbeiterInnen und SchulabbrecherInnen im North 24 Parganas District
(Corinna Wallrapp, Sommerinfo 2023)
Heute sind wir mit Fatema Khatun, einer Kinderrechtsexpertin, Mitarbeiterin unseres Partners Seva Kendra Calcutta (SKC) unterwegs. In Gobra im Gobindapur Gram Panchayat an der Grenze zu Bangladesch zeigt sie uns „ihr“ Nachhilfezentrum, in dem sie 24 Kinder aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen1 betreut. Begeistert empfangen uns die Kinder im Alter von sechs bis vierzehn Jahren – ehemalige KinderarbeiterInnen und SchulabbrecherInnen – und zeigen uns, was sie bereits gelernt haben: Rechnen mit Steinchen, Buchstaben, Lieder singen und Reime aufsagen. Jedes Kind bis vierzehn Jahre, das nicht regelmäßig eine Schule besucht, gilt als Kinderarbeiter laut Definition der MV Foundation, nach deren Konzept SKC seit Jahren arbeitet2. Auch ein achtjähriges gehörloses Mädchen besucht regelmäßig das Zentrum. Fatema erklärt uns, dass die Eltern sich den Schulbesuch für ihre Tochter Sonali wünschten, doch die Leitung der staatlichen Grundschule verweigerte ihrer Tochter wegen ihrer Behinderung die Teilnahme am regulären Unterricht. In vielen längeren Gesprächen konnte Fatema die Schulleitung und die Lehrkräfte überzeugen, Sonali aufzunehmen. Sonali ist glücklich und kann trotz ihrer Beeinträchtigung dem Unterricht gut folgen3. In einem anderen Fall identifizierte Fatema einen sehr vernachlässigten und unterernährten Jungen in der Gemeinde, dessen psychisch erkrankte Eltern sich nicht ausreichend um ihn kümmern konnten. Auch hier führte Fatema viele Vertrauen aufbauende Gespräche mit der Familie, und dank der Unterstützung eines Lehrers kann Mostafin nun zur Schule gehen, wo er neben dem Unterricht auch täglich eine warme Mahlzeit bekommt. Es sind bewegende Geschichten und Fatemas Tatendrang und ihr Wille zu Veränderungen beeindrucken uns sehr.
Momentan unterhält SKC zehn Nachhilfezentren, in denen für Schulkinder aus benachteiligten Familien täglich zwei Stunden Hausaufgabenbetreuung und Förderunterricht angeboten werden, sowie 20 Motivation Centres, in denen an zwei bis drei Tagen pro Woche jeweils zwei Stunden Unterricht für ehemalige KinderarbeiterInnen und SchulabbrecherInnen angeboten wird, um diese für einen regulären Schulbesuch fit zu machen. So kann das Team von SKC etwa 1.000 Kinder in den Gram Panchayats Saguna und Gobindapur (mit ca. 16.000 Haushalten und mehr als 18.500 Kindern von 0 bis 18 Jahren) fördern und ihnen Spaß am Lernen vermitteln. Neben dem Unterricht in den Zentren führen die MitarbeiterInnen unzählige Gespräche zu Kinderrechten mit den Familienangehörigen, den Schulen, den Mutter-Kind-Zentren (ICDS), den Gemeindemitgliedern und Behörden. Wo immer Bedarf ist, um Hürden für die Einschulung oder die regelmäßige Teilnahme am Unterricht zu überwinden, um für Kinderrechte, Hygiene und Ernährung oder andere wichtige Themen zu sensibilisieren, sind Fatema und ihre KollegInnen zur Stelle.
Alle Kinder, die in die von der Indienhilfe finanzierten Zentren kommen, bringen ihre eigene Geschichte und einen anderen Hintergrund mit: Mal liegen die Herausforderungen eher in den Familien und deren Lebensumständen, wie geringes Einkommen und Armut, fehlendes Bewusstsein für Bildung und Rechte, hoher Alkoholkonsum und häusliche Gewalt, mal eher bei den Behörden oder Schulen. Für jedes dieser Kinder suchen Fatema und ihre KollegInnen einen eigenen Lösungsansatz. Dies macht ihre Arbeit interessant, aber auch sehr zeitaufwändig und herausfordernd. Ihre Motivation und ihr unermüdliches Engagement sind wichtige Voraussetzungen der großen und kleinen Erfolge. „Es braucht Jahre, um einen Erfolg in einem ganzen Dorf zu sehen.“ sagt Fatema mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Es macht sie glücklich, wenn sie sieht, wie die von ihr betreuten SchülerInnen Spaß am Lernen haben, gerne und regelmäßig in die Schule gehen und in ihrem Dorf selber für Kinderrechte eintreten.
In einzelnen Dörfern im Saguna GP, seit vielen Jahren von uns gefördert, kann SKC sein Engagement mittlerweile langsam zurückfahren. Dort ist das Bewusstsein, wie wichtig gute Bildung, Ernährung, Hygiene und Gesundheit für die Entwicklung der Kinder sind, weit verbreitet in der Bevölkerung und die Gemeindemitglieder sind in Gruppen organisiert, die im Notfall einschreiten, z.B. bei schwerer häuslicher Gewalt oder Kinderehe. Noch begleitet das Team von SKC diese Gruppen, doch werden die Ressourcen jährlich reduziert, um die freiwerdenden Mittel in neuen Dörfern mit höherem Bedarf einzusetzen.
Mit Ihrer Spende tragen Sie zu den Erfolgen von SKC bei und ermöglichen Schulbesuch statt Kinderarbeit!
Kosten 2023/24: etwa 47.000 € – ca. 45 €/Kind
Stichwort: Kinderrechte
FN1 : Das sind in dieser Region vor allem Dalits (Angehörige der registrierten „unberührbaren“ Kasten) und arme muslimische Minderheiten
FN2: Als Kinderarbeit zählen auch Haushaltsarbeiten, Betreuung von Geschwistern, Mithilfe bei der Feldarbeit und andere Tätigkeiten, die vom Schulbesuch abhalten. MV Foundation ist eine führende Organisation in Bezug auf Kinderrechte in Indien. Mehr Infos unter: https://mvfindia.in/
FN3: Im April 2023 startete unser neues Projekt „Moving Ahead“ mit dem Partner SANCHAR, um unsere Projektpartner zum Thema Inklusion von Menschen mit Behinderungen zu sensibilisieren und Inklusion in allen Projekten zu stärken. Im nächsten Info-Brief werden wir von „Moving Ahead“ berichten.
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Überfüllte Nachhilfezentren – Corona trifft Kinder aus sozialen Randgruppen besonders hart:
unsere Arbeit mit Partner DMSC in Kotshila und Senabona, Distrikt Purulia
(Sarah Well-Lipowski, Frühjahrsinfo 2022)
Jyotimala besuchte gern und regelmäßig den Nachhilfeunterricht, den unser Projekt-Partner Durbar Mahila Samanwaya Committee1 (DMSC) im Sozial- und Kinderzentrum Senabona anbietet. Doch plötzlich blieb sie weg. Ihre alleinerziehende Mutter, die vor Ausbruch der Corona-Pandemie Erdnüsse am lokalen Bahnhof verkaufte, ist durch den Lockdown arbeitslos geworden und seitdem den ganzen Tag unterwegs, auf der Suche nach Gelegenheitsjobs. Seit September 2021 ist die Situation der Familie so prekär, dass sich die erst achtjährige Jyotimala allein um die kleine Schwester und den Haushalt kümmern muss. DMSC-Mitarbeiter Bidhun besucht die Familie regelmäßig und versucht, die Mutter zu überzeugen, dass Bildung die einzige Chance auf ein besseres Leben, auf eine Zukunft ohne Armut für ihre Kinder ist. Auch wenn er das Mädchen bisher weder ins Nachhilfezentrum noch in den Schulunterricht zurückholen konnte, bleibt er hartnäckig.2 Jyotimala ist nur eines der vielen Kinder, die durch Lockdown und zweijährige Schulschließung den Anschluss an schulische Bildung verloren haben und Kinderarbeit verrichten.3
Im Rahmen unseres Projektes unternimmt DMSC alles, um diese Kinder in den Nachhilfe-Unterricht in den Zentren und in der Folge auch in die Schulen zurückzuholen: Seit Beginn der Pandemie stieg die Zahl der Nachhilfeschüler*innen von 99 auf 126. Obwohl es für die Indienhilfe finanziell nicht leicht war, stimmten wir der Erhöhung der Schülerzahl ohne Zögern zu, weil die verschlechterte Ernährungs- und Bildungssituation der Kinder unser Handeln dringend erforderte. In unseren beiden Zentren erhalten die Kinder an sechs Tagen die Woche für jeweils zwei Stunden Nachhilfe- und lebenskundlichen Unterricht und eine warme, nahrhafte Mahlzeit. Aber es war uns finanziell bisher nicht möglich, auch die Zahl der Nachhilfe-Lehrkräfte angemessen zu erhöhen.
Das Hilfsangebot im abgelegenen, dürregeplagten Purulia-Distrikt in Westbengalen richtet sich vor allem an Kinder der (sexuell und ökonomisch) ausgebeuteten Nachni-Dorftänzerinnen und benachteiligten Jhumur-Musiker, die aufgrund ihrer traditionellen Tätigkeit besonderer Diskriminierung und Benachteiligung ausgesetzt sind. Bei Projektbesuchen habe ich ihre kritischen Lebensverhältnisse selbst kennengelernt. Neben dem Nachhilfeunterricht für Schulkinder bietet DMSC weiteren 66 Kindern unter sechs Jahren eine ganztägige Krippenbetreuung an, einschließlich frühkindlicher Förderung und nahrhafter Mahlzeiten, weil gerade in diesem Alter Mangelernährung lebenslange Schäden verursachen kann. Die Entwicklung und der Gesundheitszustand aller Kinder werden regelmäßig kontrolliert. Eine von der Indienhilfe 2020 veranlasste externe Evaluierung des Projektes ergab, dass beim Lernniveau der Schul- und Krippenkinder beachtliche Fortschritte erzielt wurden. Auch die Ernährungssituation der Kinder hatte sich verbessert, dennoch war die Rate der mangel- und unterernährten Kinder kurz vor der Pandemie immer noch zu hoch. Die Situation hat sich seither wieder verschlechtert; eine Fortführung der Projektarbeit ist dringend notwendig, um die bisher erzielten Erfolge nicht zu gefährden, sondern auszubauen.
Von 2017 bis 2021 hat RED CHAIRity, die weltweit tätige Hilfsorganisation der XXXLutz-Möbelhäuser, das Projekt vollständig finanziert. Doch ab 2022 muss die Indienhilfe das Projekt wieder allein mit ihren Spenderinnen und Spendern stemmen. Aufgrund unserer knappen Mittel und der gestiegenen Zahl der Nachhilfeschüler*innen konzentrieren wir uns zunächst auf die Arbeit mit den Kindern. Die wichtige Mütter- und Elternarbeit mit den dafür notwendigen zusätzlichen Mitarbeiter*innen können wir derzeit noch nicht finanzieren, obwohl Bedarf und Nachfrage hoch sind. (Bisher waren auch die Aufklärung von Nachnis und Jhumurs über ihre Rechte, Hilfe bei der Beantragung staatlicher Hilfsangebote, z.B. für Unterstützung beim Bau fester Behausungen, der Aufbau und die Begleitung von Jugend- und Selbsthilfegruppen, Anleitung zur Kultivierung von Küchengärten usw. Teil des Projekts.) Die hohe Inflation in Indien, zurückzuführen u.a. auf den Krieg in der Ukraine, treibt zusätzlich die Lebensmittelpreise und damit die Projektkosten für das warme Essen in die Höhe. Deshalb kommt es hier dieses Jahr ganz besonders auf jeden Spenden-Euro an, um die Arbeit fortsetzen und möglichst auch wieder erweitern zu können.
Kosten 2022/23: ca. 52.000 € (ca. 300 €/ Kind)
Stichwort: Purulia
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(1) Unstoppable Women's Solidarity Committee
(2) Erst seit Februar 2022 sind die staatlichen Schulen in Westbengalen wieder geöffnet, die im März 2020 wegen Corona geschlossen worden waren.
(3) Als Kinderarbeit zählen auch Haushaltsarbeiten, die vom Schulbesuch abhalten. https://www.ilo.org/ipec/areas/Childdomesticlabour. Laut ILO und Unicef ist die Zahl der Kinderarbeiter seit 2020 auf Grund der Pandemie global gestiegen https://www.unicef.de/informieren/materialien/report-kinderarbeit/243308