Regierungsprogramme in Indien
Die indische Regierung hat eine Vielzahl staatlicher Hilfsprogramme eingeführt, um die Armut im Land zu bekämpfen. Ein wesentlicher Aspekt der von uns geförderten Projekte besteht darin, den Ärmsten der Armen den Zugang zu diesen Programmen zu ermöglichen - durch Information und praktische Hilfe, z.B. beim Ausfüllen von Formularen, was für Analphabeten eine unüberwindbare Hürde ist.
Eine Übersicht über die wichtigsten staatlichen Programme zur Armutsbekämpfung in Westbengalen und Indien insgesamt finden Sie HIER. In untenstehenden Artikel stellt IH-Mitarbeiterin Astrid Kösterke dar, welche staatlichen Hilfsprogramme in unseren Projekten genutzt werden und wie sich dadurch Ihre Spende vervielfacht:
Den Hebel richtig ansetzen: Wie die finanzielle Projektförderung durch die Indienhilfe
in hohem Maße innerindische finanzielle Ressourcen freisetzt
(Astrid Kösterke, Herbstinfo 2020, pdf-Datei hier)
Indien hält inzwischen eine Vielzahl staatlicher Sozial- und Hilfsprogramme bereit, um Armut zu bekämpfen, Gesundheit, Bildung oder menschenwürdiges Wohnen zu fördern. Viele Menschen, die darauf Anspruch haben, wissen allerdings nicht von deren Existenz oder scheitern bei der Beantragung, weil sie nicht lesen und schreiben können, ihnen nötige Dokumente fehlen oder ein Smartphone, wenn der Antrag digital gestellt werden muss. In allen Projekten der Indienhilfe ist es daher eine zentrale Aufgabe der ProjektmitarbeiterInnen, über die staatlichen Angebote zu informieren und bei deren Beantragung zu helfen. Dies wiederum bewirkt vor Ort eine Vervielfachung des Nutzens der Spenden aus Deutschland – also Ihrer Spenden – für die Projekte der Indienhilfe.
Ein Spender war es, der vor einigen Monaten anregte zu recherchieren, wieviel Geld durch welche staatlichen Hilfsprogramme in unseren Projekten konkret mobilisiert wird. Daher baten wir die Projektpartner um eine Zusammenstellung der Zahlen aus dem indischen Finanzjahr 2019/2020.1
Herausgekommen sind eine Vielfalt an Programmen und eine beachtlich hohe Summe in Anspruch genommener Gelder, die einer großen Zahl sozial benachteiligter Kinder und deren Familien zu Gute gekommen sind (in vielen Fällen Adivasi und Dalits, aber auch muslimische und christliche Minderheiten).
Um mit der großen Datenmenge der etwa 35 Programme in unseren fünf ausgewählten Projekten arbeiten zu können, ordneten wir sie inhaltlichen Förderschwerpunkten zu.2 Bei den nachfolgenden Berechnungen berücksichtigten wir nur Programme, bei denen es tatsächlich um finanzielle Zuwendungen geht und für die keine direkte Gegenleistung erfolgte. So wurden beispielsweise Sachleistungen (Lebensmittel) nicht erfasst, ebenso wenig das 2005 landesweit eingeführte 100-Tage-Arbeitsgarantie-Programm für Menschen unter der Armutsgrenze3 oder Programme für vergünstigte Kredite. Die verbleibenden 19 Programme ordneten wir fünf Förder-Kategorien zu und errechneten daraus jeweils die Summe der Zuwendungen sowie die Anzahl der Zuwendungsempfänger.
Insgesamt 34.364 Personen in fünf Projektgebieten profitierten 2019/20 von Programmen mit direkten Zuwendungen. Grafik 1 macht deutlich, dass die Meisten Zuwendungen aus Bildungsprogrammen (38 %) oder im Bereich Landwirtschaft (37 %) erhielten. 12 % profitierten von Gesundheits- und Sozialprogrammen, ebenso viele von Förderungen für Bauen und Wohnen (Häuser, Toiletten). Ein immerhin messbarer Anteil von 1 % bekam Unterstützung aus Programmen für Menschen mit Behinderungen.
An Geld wurden im Finanzjahr 2019/20 insgesamt über acht Millionen Euro aus staatlichen indischen Förderprogrammen mit Hilfe unserer Projektpartner in den Projektgebieten ausgezahlt. Der mit 76 % überwiegende Anteil entfiel auf den Haus- und Toilettenbau. Weitere 11 % stammten aus Bildungsprogrammen. Gesundheit und Soziales machten 7 % aus, 5 % die landwirtschaftlichen Hilfen und 1 % Programme für Menschen mit Behinderungen.
Grafik 2 zeigt die Verteilung auf die fünf Kategorien. Die durchschnittliche Höhe der Zahlungen in diesen Kategorien betrug 234 € pro Person (bei einem 2019/20 von uns erzielten Wechselkurs von 1:76,2). Die Werte liegen zwischen 30 € und 149 € pro Person, bei Programmen für Haus- und Toilettenbau bei 1.464 €. Ein Durchschnittswert ohne die Kategorie Bauen & Wohnen ergibt aus den dann verbleibenden 1,9 Mio. € einen „realistischeren“ durchschnittlichen Wert von 62 € pro Person (für 30.162 Begünstigte).4
Die Gesamt-Hebelwirkung bei den fünf Projekten zeigt sich im Verhältnis der von der Indienhilfe 2019/20 an diese überwiesenen Spendengelder (141.000 €) zur Gesamtsumme der Zuwendungen aus staatlichen Programmen (8.024.589 €): Durch einen von der Indienhilfe „investierten“ Euro wurden durchschnittlich staatliche indische Fördermittel im Wert von knapp 57 Euro generiert.
Erfolgsgeschichte: Seva Kendra Calcutta (SKC)
Unsere langjährige Partnerorganisation Seva Kendra Calcutta (SKC) mit ihrem Projekt „Kommunen ohne Kinderarbeit“ im Baduria Block, North-24-Parganas Distrikt, ist besonders erfolgreich, was Unterstützung für Abruf und Nutzung staatlicher Hilfsprogramme betrifft. SKC arbeitet in drei Kommunen mit insgesamt ca. 95.000 Einwohnern. Wir wollen Ihnen an ihrem Beispiel vorstellen, um was für Programme es dabei geht – darunter einige, die uns in Deutschland nicht auf Anhieb einfallen würden...
Beispiel Seva Kendra Calcutta (SKC) |
Personen |
|
|
Gesundheit, Soziales, Pensionen/Unterhaltsbeihilfen
|
3.482 |
466.706 |
134 |
Bildungsprogramme
|
12.072 |
862.218 |
71 |
Bauen und Wohnen
|
3.419 |
4.864.108 |
1.423 |
Menschen mit Behinderungen
|
238 |
37.480 |
157 |
Landwirtschaftliche Versicherung und Beihilfen für Kleinstbauern |
12.367 |
380.092 |
31 |
Summe SKC gesamt |
31.578 |
6.610.604 |
209 |
Datenbasis – Quelle: Angaben von SKC, eigene Berechnungen |
Aus der Tabelle lässt sich ablesen, dass im Projektgebiet von SKC mehr als 12.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene von Bildungsprogrammen profitieren. Mädchen werden gezielt dabei unterstützt, bis zur Volljährigkeit zur Schule zu gehen und einen weiteren Bildungsweg einzuschlagen.
Mit solchen Programmen wird staatlicherseits der Verheiratung minderjähriger Mädchen entgegengewirkt.5 Dazu passt, dass Jugendliche nach Beendigung der achten Klasse ein Fahrrad bekommen, denn um eine weiterführende Schule zu besuchen, sind häufig größere Entfernungen zurückzulegen. So fördert ein Fahrrad nicht nur die Mobilität, sondern auch die Bildungschancen junger Menschen und damit das Ziel, Kinderarbeit zu beenden.
Aus dem Bereich Bauen und Wohnen fällt das Programm zum Bau von privaten Toiletten auf. Gerade in ländlichen Gebieten ist die Einhaltung von Hygieneregeln keineswegs selbstverständlich, Kanalisation oder Abwasserreinigung gibt es kaum. Für Frauen bedeutet eine Toilette Schutz vor Übergriffen und die Möglichkeit angstfreier Flüssigkeitszufuhr, gerade während der vielen Monate tropischer Hitze. Für alle Familienmitglieder und die Nachbarschaft bedeutet es weniger wasserübertragene Krankheiten.
Sehr viele Kinder in unseren Projekten leben mit ihren Familien in einfachsten Lehmhäusern oder Bambushütten mit geflochtenen Wänden, Wind und Wetter wie auch Ungeziefer, Schlangen, giftigen Insekten etc. ausgesetzt. Ein Zuschuss für den Bau eines Häuschens mit Ziegel- oder Betonwänden und einem festen Dach bedeutet einen Riesengewinn an Sicherheit. Die Kosten pro Haus gehen weit über andere Zuschüsse hinaus und jährlich kann nur eine kleine Zahl an Familien in den Genuss dieses Programms kommen.
Mit diesen Beispielen möchten wir Ihnen einmal aus einem anderen Blickwinkel eine Vorstellung davon geben, was Sie durch Ihre Spenden in den Projektgebieten bewirken können. Auch wenn die hier verwendete Datengrundlage nicht vollständig ist, ergibt sich zumindest die Größenordnung, in der Ihre eingesetzten Spendenmittel durch die vielfach höheren Leistungen des indischen Staates ihre Wirkung entfalten. Die von Ihnen finanzierten Projekte wirken als Katalysatoren der Entwicklung: durch materielle Verbesserungen, aber auch durch Empowerment – die Stärkung von Kindern und ihren Familien, die sozial an den Rand gedrängt sind. Durch das Eröffnen neuer Chancen und Möglichkeitsräume für sie und durch die Entwicklung innovativer Projektkonzepte. Wir werden zusammen mit unserem ExpertInnen-Team in Kolkata eine Vorgehensweise erarbeiten, um durch einen intensiveren Austausch der Projektpartner untereinander über Förderprogramme durch den indischen Staat Synergieeffekte zu verstärken – für ein besseres Leben aller.
1 Für die Auswertung lagen uns Daten von unseren Partner-NGOs INSPIRATION, KJKS, Lake Gardens, Sanchar und SKC vor.
2 Links zu weiteren Informationen über die hier angeführten staatlichen indischen Hilfsprogramme können Sie HIER.
3 „Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Act“, eines der wichtigsten Armutsbekämpfungsprogramme in Indien
4 „Pro Person“ bedeutet in der Praxis meist, dass nicht nur eine Person, sondern die Familie davon profitiert. Auch können Familien mehrere Programme gleichzeitig in Anspruch nehmen. Genauere Angaben dazu sind aufgrund der Datenlage derzeit nicht möglich.
5 Das Programm „Kanyashree" der Regierung von Westbengalen hat seit 2014 zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen bekommen, darunter 2017 den „Public Service Award" der Vereinten Nationen (UNPSA). https://publicadministration.un.org/unpsa/database/Winners/2017-Winners/Kanyashree-prakalpa. S. auch https://www.wbkanyashree.gov.in/kp_5.0/awards.php
Linkliste zu den staatlichen indischen und westbengalischen Hilfsprogrammen
(Stand: Herbst 2020)